ROMANE
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DAS GESCHENK DER STERNE
Leseprobe
Als Tschuang Tse um die Mittagszeit von einem Spaziergang zurückkehrte, wartete ein junger Mann vor seinem Haus, verneigte sich höflich und fragte: "Bist du Tschuang Tse?"
"Ja, der bin ich."
"Mein Name ist Min Teng. Ich habe eine Nachricht für dich."
"Laß uns hineingehen", erwiderte Tschuang Tse.
Der junge Mann folgte ihm ins Innere seines kleinen Hauses, schloß die Tür hinter sich und sagte: "Es ist keine gute Nachricht. Du wirst jetzt sterben!"
Min Teng zückte seinen Dolch, doch etwas hinderte ihn daran, den todbringenden Stoß auszuführen. War es die Verblüffung darüber, daß Tschuang Tse nicht die geringste Furcht vor dem Sterben zeigte? Nicht eine Spur von Angst war in seinem Blick. Er sah Min Teng mit einer Gelassenheit an, die ihn maßlos verwirrte.
Je länger Min Teng in Tschuang Tses Augen sah, desto deutlicher wurde ihm bewußt, daß er ihn nicht töten konnte, ohne zuvor herauszufinden, warum er sich nicht vor dem Sterben fürchtete. Außerdem hatte ein Mann, der mit solchem Gleichmut der Zerstörung seines Lebens entgegensah, eine Aufklärung über den Grund seines Todes verdient. Min Teng senkte langsam den zum Dolchstoß erhobenen Arm.
"Wollen wir uns nicht setzen? Meine Beine sind etwas müde von meinem Spaziergang."
Min Tengs Verwunderung über Tschuang Tses Sorglosigkeit wuchs. Hatte der Mann, den viele für einen bedeutenden Weisen hielten, seinen Verstand verloren?
Unwillkürlich streifte Min Tengs Blick über die karge Einrichtung des Raumes. Tschuang Tse lebte in Armut. Nur das Allernötigste war in dem kleinen Haus vorhanden und von den Spuren langen Gebrauchs gezeichnet. Seine abgetragene Kleidung hatte kleinere Löcher und Risse, seine Schuhe waren mit Schnüren zusammengebunden, damit sie nicht auseinanderfielen.
Die Tötung des schlanken, fast schmächtigen Mannes, der in Lumpen herumlief und sich gerade so unbekümmert auf einem der beiden zerschlissenen Sitzkissen niederließ, als hätte er die Lage der Dinge überhaupt nicht verstanden, würde ein Kinderspiel sein. Tschuang Tse war nicht mehr der Jüngste und trug keine Waffe am Körper, mit der er sich hätte verteidigen können. Er strahlte mit allen Fasern seines Wesens aus, daß er kein Kämpfer war. Von diesem seltsamen Mann ging nicht die geringste Gefahr aus, er wirkte wehrlos und arglos wie ein Kind. Ohne daß Min Teng hätte sagen können warum, störte ihn die Leichtigkeit, mit der sich Tschuang Tses Leben vernichten ließ.
"Hast du keine Angst vor dem Tod?" fragte Min Teng, schob seinen Dolch in die Scheide zurück und setzte sich auf das andere Strohkissen.
"Warum sollte ich?"
"Alle Menschen fürchten den Tod!"
"Nur diejenigen, die nicht wissen, daß er nicht zu fürchten ist. Warum willst du mich töten?"
"Hauptmann Feng, der Führer der Palastwache des Prinzen Yan, gab mir den Befehl dazu. Prinz Yan hält dich für einen gefährlichen Mann, dessen Gedanken und Worte die Menschen im Land in geistige Verwirrung stürzen könnten."
Tschuang Tse lachte auf. "Sie sind bereits so verwirrt, daß es unmöglich wäre, sie in noch größere Verwirrung zu stürzen!"
"Du lachst im Angesicht deines Todes?"
"Ich lache, weil ich etwas Lustiges gehört habe."
"Deine Furchtlosigkeit beeindruckt mich."
"An dir kann ich bislang nichts Beeindruckendes entdecken."
"Ich bin nicht hier, um dich zu beeindrucken."
"Darf ich dir eine Schale Wasser anbieten?" fragte Tschuang Tse und stand auf.
Während Min Teng noch darüber nachdachte, ob es recht war, Wasser von einem Mann anzunehmen, den er gleich erdolchen würde, hatte Tschuang Tse einen Krug mit Wasser und zwei Schalen auf den Tisch gestellt und sich wieder auf dem Sitzkissen niedergelassen.
Min Teng goß Wasser in eine der beiden Schalen. "Genieße dieses Wasser! Es wird dein letztes sein."
"Ich frage dich, Min Teng: Ist es nicht verwunderlich, daß ein mächtiger, reicher Mann wie Yan, der Prinz von Sung, einen machtlosen, armen Mann wie mich so sehr fürchtet, daß er meinen Tod will?"
"Es steht mir nicht zu, die Beweggründe des Prinzen in Frage zu stellen. Du bist ein Schädling, denn dein Denken vergiftet den gesunden Menschenverstand, auch wenn manche dich für einen Dichter halten, sogar für einen Weisen. Trinke dein Wasser, Tschuang Tse!"
Tschuang Tse nahm die Schale und stellte sie vor Min Teng auf den Tisch. "Trink du es! Oder fürchtest du, daß es vergiftet ist?"
Min Teng widerstand dem Drang, erneut seinen Dolch zu ziehen. Warum zögerte er, den Befehl des Prinzen von Sung auszuführen? Sicherlich war es Tschuang Tses Furchtlosigkeit, die ihn nach wie vor beeindruckte, aber mehr noch war es das Verlangen zu erfahren, was der Grund dieser Todesverachtung war. Er saß keinem gebrechlichen Greis gegenüber, der ohnehin bald sterben würde, sondern einem Mann im Herbst seines Lebens, der heiter und zufrieden wirkte, offensichtlich bei bester Gesundheit war und sich noch viele Jahre seines Daseins erfreuen konnte.
Aus dem Nachwort des Autors
Man kann Tschuang Tse als einen Philosophen oder Denker, als einen Weisen oder Dichter bezeichnen, aber er war vor allem ein Mystiker, dem die unmittelbare Erfahrung der höchsten Wirklichkeit jenseits der Verstandesgrenzen zuteil wurde.
Wie sein griechischer Zeitgenosse Diogenes hielt Tschuang Tse sich in seinem Empfinden, Denken und Handeln von der Gesellschaft und ihren Wertmaßstäben fern. Er betrachtete die Zwänge der Moral, der Pflichten und Bräuche als einen verhängnisvollen Irrweg und verschrieb sich einem freien, natürlichen und freudigen Leben in Einklang mit den ewigen Gesetzen der Natur: dem Tao.
In meinen Augen ist Tschuang Tse einer der freiesten Denker und einer der bedeutendsten Weisen der Menschheitsgeschichte, der sein Wissen um das Unsagbare (im Bewußtsein seiner Unsagbarkeit) der Nachwelt mitgeteilt hat, auf gleichnishafte, dichterische Weise - was nicht überrascht, denn tiefste Weisheit hüllt sich gern in Poesie.
Das Angebot eines Königs, sein Minister zu werden, hat er angeblich abgelehnt - wie alle hohen Staatsämter, die ihm mehrfach angetragen wurden. Als Strohsandalenmacher soll er seinen Unterhalt verdient und in einem Lackbaumgarten zeitweilig einen unbedeutenden Posten bekleidet haben. Möglicherweise hat er auch eine Weile als Bibliothekar gearbeitet.
Sein Leben lang zog er die Armut in Freiheit und Muße den Verpflichtungen und Abhängigkeiten einer einträglichen, gesellschaftlich angesehenen Stellung vor
An einem Tag im Juli 2007 kippten beim Aufräumen meiner Bücherregale als Folge einer ungeschickten Handbewegung mehrere Bücher von einem Brett in Kopfhöhe. Unwillkürlich versuchte ich, sie alle aufzufangen, doch es gelang mir nur mit einem: einer Sammlung von Geschichten und Gleichnissen des chinesischen Weisen Tschuang Tse. Dieses schmale Buch fiel mir buchstäblich in die Hände, während die anderen auf dem Boden landeten.
Ich schlug es beiläufig auf, las ein paar Seiten, war (nicht zum ersten Mal) fasziniert - und fühlte mich unwiderstehlich inspiriert, einen Roman über Tschuang Tse und seine Weisheit zu schreiben, obwohl ich mir fest vorgenommen hatte, in diesem Sommer kein längeres Manuskript zu beginnen.
In der Regel sucht ein Schriftsteller nach einem Thema für einen Roman. In diesem Fall hatte das Thema mich gesucht - und gefunden. Das Buch mit den Texten von Tschuang Tse fiel aus meinem Regal, fiel mir "zufällig" zu, ich fing es mit einer Reflexbewegung auf, öffnete es - und etwas öffnete sich in mir. Hätte ich nicht dieses Buch, sondern ein anderes oder gar keins aufgefangen, wäre dieser Roman nicht entstanden.
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DER KUSS DES SCHMETTERLINGS
Leseprobe
"Und was soll jetzt aus Ihnen werden?" fragte eine Kollegin, als ich mich von ihr verabschiedete.
"Ich selbst", sagte ich.
Sie sah mich an, wie man eben angesehen wird, wenn man so etwas sagt. Als sei man nicht ganz richtig im Kopf.
"Ich habe den Betrieb hier endgültig satt", wechselte ich die rhetorische Ebene, und jetzt verstand sie. Zumindest nickte sie versonnen.
"Jeder zweite Berufstätige würde am liebsten aus seinem Beruf aussteigen", zitierte ich das Ergebnis einer Umfrage, "und ich tue es. So einfach ist das. Warum tun Sie es nicht?"
"Ich brauche Geld."
"Ich brauche Freiheit", sagte ich, und das verstand sie nicht. Sie öffnete ein bißchen ratlos den Mund und zeigte mir ihre untadeligen Zähne. Fast hätte ich ihr in der Euphorie meines Abschieds spontan einen Kuß gegeben.
Leichtfüßig und lächelnd verließ ich das Gebäude, in dem ich viele Jahre viel von meinem Leben verloren hatte, ohne mehr gewonnen zu haben als ein gesichertes Einkommen.
Zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte ich mich wieder frei, und das war ein so gutes Gefühl, daß ich mich fest entschloß, es nie wieder aufzugeben, um keinen Preis der Welt.
Ich hatte den einzigen Beruf an den Nagel gehängt, für den ich qualifiziert war. Ich war stolz auf mich, daß ich den Mut aufgebracht hatte, etwas so Unvernünftiges zu tun.
Auf dem Weg zur Bushaltestelle begann ich I feel free zu singen und lächelte alle Passanten an, die mir entgegenkamen. Die meisten sahen befremdet oder unsicher zur Seite, aber einige erwiderten mein Lächeln. Ein Mann stimmte sogar kurz pfeifend in meinen Freiheitsgesang ein.
Es war eine große Überraschung gewesen, als die Chefsekretärin nach der Mittagspause anrief und mich ins Büro des Firmenleiters beorderte. Gott erwies nur selten einem seiner niederen Geschöpfe die Ehre einer Audienz. Der Chef Dr. Gotthard (alle Mitarbeiter nannten ihn Gott, der Einfachheit halber und wegen seines autoritären Führungsstils) galt als personalscheu. Ich war ihm noch nie begegnet.
"Worum geht es denn?" fragte ich.
"Ich weiß es nicht. Dr. Gotthard erwartet Sie umgehend", sagte sie und legte auf.
Ich verließ mein Büro, stieg in den Fahrstuhl und fuhr in den Siebten Himmel, wie die Chefetage firmenintern genannt wurde, weil sie sich im siebten Stock befand.
Was mochte Gott von mir wollen?
Dem professionellen Lächeln seiner Vorzimmerdame konnte ich es nicht entnehmen; falls sie es wußte, hätte es telepathischer Kräfte bedurft, um es herauszufinden, aber vielleicht wußte sie wirklich nicht mehr als ich.
"Sie können gleich zu ihm hineingehen!" sagte sie und betätigte den elektrischen Türöffner.
Und so betrat ich zum ersten Mal in meinem Leben Gottes Büro.
Er thronte hinter einem wuchtigen antiken Schreibtisch und las in einer Akte, die er zögernd beiseite legte, als er mein Kommen gewahrte. "Treten Sie näher", forderte er mich auf.
Während unseres kurzen Gesprächs, dessen Belanglosigkeit mich verwunderte, fiel mein Blick immer wieder auf die Wand hinter seinem Rücken, die von vier große Glaskästen mit präparierten Schmetterlingen geschmückt war - sofern man in diesem Fall von Wandschmuck sprechen konnte.
Meine Blicke entgingen ihm nicht, und schließlich sagte er: "Meine kleine Sammlung gefällt Ihnen wohl!"
Was sollte ich darauf sagen? Natürlich gefiel sie mir nicht. Schmetterlinge gefallen mir nur, wenn sie leben.
"Ja", hörte ich mich sagen und ärgerte mich sofort über meine Heuchelei.
"Schauen Sie sich meine Schönheiten ruhig genauer an", forderte er mich in einem Anfall von Jovialität auf, und mir blieb nichts anderes übrig, als näher an den Schreibtisch heranzutreten und mein simuliertes Gefallen unter Beweis zu stellen.
Während ich die etwa hundert unter Glas verewigten Schmetterlinge studierte, veränderte sich meine Wahrnehmung auf merkwürdige Weise. Eine innere Stimme sagte mir, daß diese zur Erbauung des Betrachters aus dem Leben gerissenen Schönheiten der Lüfte hinter dem Rücken Gottes Sinnbilder für die Angestellten seiner Firma waren - konservierte, ihres Lebens beraubte und hinter dem Glas des Berufsalltags an ihren Arbeitsplatz festgenagelte Geschöpfe, deren Zahl ungefähr mit denen der Schmetterlinge in den Schaukästen identisch war.
Und nun geschah etwas Seltsames. In einem der toten Falter erkannte ich plötzlich den Personalchef wieder - vielleicht weil das dunkle Grau der Flügel mit der bevorzugten Farbe seiner Anzüge übereinstimmte. In einem anderen sah ich die Chefbuchhalterin. Ein farbenfroher Schmetterling erinnerte mich an eine junge Kollegin, die sich dem eintönigen Arbeitsalltag mit auffälliger, bunter Kleidung entgegenzustemmen versuchte. Nach und nach erkannte ich, daß es für jeden Angestellten dieser Firma, für deren Wohl ich lange mit wachsendem Unbehagen gearbeitet hatte, eine Entsprechung in den vier symmetrisch angeordneten Glaskästen gab.
Und plötzlich sah ich einen exotischen Schmetterling, dessen Flügel sich zu bewegen schienen - und erkannte mich selbst in ihm. In diesem Augenblick wußte ich, daß ich keinen Tag länger in der Firma bleiben würde, was ein warmes Gefühl der Erleichterung in mir hervorrief.
Ich sah Gott in die Augen und sagte ohne den geringsten Zweifel an der Richtigkeit meiner Entscheidung: "Ich kündige!"
Und so verließ ich Gottes Büro, ohne erfahren zu haben, was er eigentlich von mir gewollt hatte.
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© an den Photos und Leseproben by Hans Kruppa
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