MÄRCHEN



Eine Passage aus "Das Herz eines Engels"

Amila war ein sanftmütiges Mädchen, das von seinen Eltern über alle Maßen geliebt wurde.
Sie wußten, daß sie mit dieser Tochter ein Geschenk des Himmels erhalten hatten, denn sie war ein ganz besonderes Kind. In Amilas offenen blauen Augen glänzte eine Schönheit, die nicht von dieser Welt zu sein schien. Ihr strahlender Blick und ihr sonniges Lächeln verzauberten jeden, der ihr begegnete. Sie hatte ein liebevolles Herz, das von Anfang an seinen Weg kannte und Amilas Verhalten lenkte. Schönheit in jeder Form entzückte und bannte sie.
Sie saß oft im Garten und betrachtete lange eine Blume, einen blühenden Strauch oder einen Baum. Dabei war sie fast reglos und schien die Zeit und sich selbst zu vergessen.
"Es ist, als würde sie die Schönheit der Natur anbeten", sagte ihr Vater Keno, ein Bildhauer, der mit seiner Frau Sina auf der Terrasse ihres abgeschiedenen Hauses saß und Amila beobachtete.
Amilas Mutter schüttelte unwillkürlich den Kopf. "Schon eine Viertelstunde sitzt sie im Gras und betrachtet die Blumen – mit verzücktem Gesicht. Einerseits bin ich glücklich über ihr Wesen, aber manchmal bekomme ich Angst, Angst um ihre Zukunft. Noch können wir sie beschützen, aber wie wird es sein, wenn sie nächste Woche zur Schule gehen muß? Wie soll sie bestehen mit ihrer sanften Seele, mit ihrem liebevollen Herzen, in der harten Welt der Schulkinder? Was uns an ihr verzaubert, kann den Neid oder das Unverständnis anderer Kinder erregen. Wie soll sie sich wehren, wenn sie gedemütigt oder angefeindet wird?"
Keno nahm Sinas Hand. "Ich teile dein Glück und auch deine Sorgen. Das Glück erfüllt mein Herz immer aufs neue mit großer Freude, und die Sorgen bereiten mir schlaflose Stunden, in denen ich an Amilas Bett sitze, ihr Gesicht betrachte und ihrem Atem lausche. Aber wir können und konnten nichts anderes tun, als ihr all unsere Liebe zu geben. Sie kommt mir manchmal vor wie ein Engel in Menschengestalt. Bisweilen will ich ihr etwas erklären und stelle fest, daß sie es schon weiß. So seltsam es klingen mag: Ich habe das Gefühl, daß die Seele unserer kleinen Tochter mehr Weisheit in sich trägt als meine eigene, und daß ich sie nichts Wesentliches lehren kann, weil sie es schon gelernt hat – auch wenn ich nicht weiß, wie und wann."
Sina nickte. "Ja, mir geht es genauso. Alle Kinder stellen ihren Eltern Fragen. Amila fragt so gut wie nie. Von Zeit zu Zeit habe ich den Eindruck, daß ich sie etwas fragen möchte, daß ich manches von ihr lernen könnte. Warum hat uns das Schicksal einen solchen Engel anvertraut?"
"Damit wir Amila davor beschützen, daß die Welt ihre Flügel bricht."
Sina seufzte. "Wir werden nicht immer bei ihr sein können. In der Schule wird sie täglich mit anderen Kindern zusammen sein. Du weißt, wie rücksichtslos Schulkinder miteinander umgehen können. Sie wird einen Lehrer haben, für den sie nur eine von vielen Schülerinnen ist. Sie wird auf Menschen treffen, die ihre zarte Seele verletzen können."
"Ja", brach Keno das beklommene Schweigen, das nach den Worten seiner Frau entstanden war, "aber noch ist es nicht so weit. Wir müssen versuchen, ihr durch unsere Liebe die Kraft zu geben, in der Schule zu bestehen, ohne ihren inneren Reichtum zu verlieren. Sieh nur, sie sitzt noch immer vor dem Blumenbeet. Sie liebt Blumen über alles! Hast du sie jemals eine Blume pflücken sehen?"
Sina schüttelte den Kopf.
"Alle Kinder hier im Dorf pflücken Blumensträuße und bringen sie ihren Eltern", sagte Keno.
"Ich bin glücklich darüber, daß Amila es nicht tut. Sie würde nie etwas zerstören, das sie liebt. Ich glaube, sie ist unfähig, überhaupt etwas zu zerstören. Sie ist ein junges Mädchen, aber sie hat die Weisheit einer alten Seele. Manchmal sagt sie Dinge, die ein anderes Kind in ihrem Alter nie erkennen, geschweige denn aussprechen würde. Und ich bin beglückt und gleichzeitig verwirrt."
"Mir geht es genauso. Sieh nur, Sina, ein bunter Schmetterling hat sich vor ihr auf eine Blume gesetzt!"

Amila betrachtete den wunderschönen Falter. Sie atmete so vorsichtig wie möglich, um ihn nicht zu verscheuchen. Die bunten Farben seiner zarten Flügel ließen ihr Herz vor Entzücken höher schlagen. Sie fühlte sich glücklich und nahm ihren bewundernden Blick nicht von dem Falter, bis ein Vogel ihn verjagte, der ganz nah an ihr vorbeigeflogen war.
Wie wunderschön war das Leben im Garten! Die Schmetterlinge, die Vögel, die vielen bunten Blumen, die blühenden Sträucher und die lieben Bäume! Alle waren sie ihre Freunde, alle hatten einen Platz in ihrem Leben, zu allen sprach sie mit ihrem Herzen und fühlte, daß sie ihr antworteten.
Amila spürte, daß all ihre Freunde zwar getrennt voneinander zu leben schienen, aber tief miteinander in geheimnisvoller Einheit verbunden waren. Die Tiere, die Pflanzen und Bäume waren Teile eines unsichtbaren Ganzen, wie Amila selbst. Und dieses allumfassende Ganze war von einer wunderbaren Schönheit und Weisheit beseelt.
So empfand Amila es, auch wenn sie noch nicht die Worte kannte, die ihr Empfinden ausdrücken konnten. Sie zeigte es den Blumen mit ihrem Lächeln, sie offenbarte es den Schmetterlingen und Vögeln mit ihrem Entzücken, sie schenkte es den Bäumen im Garten mit ihren Umarmungen.




Eine Passage aus "Der gefundene Schatz"

Ein junger Goldschmied namens Golan beschloß, sein Leben zu ändern, nachdem er erkannt hatte, daß die allgemeine Art zu leben so sehr von grauer Oberflächlichkeit, sinnleeren Gewohnheiten und hohlem Gerede bestimmt war, daß sie nur falsch sein konnte.
Er konnte nicht verstehen, daß kaum ein Mensch in der ganzen Stadt sich die Frage nach dem Sinn seines Daseins stellte und nach befriedigenden Antworten suchte. Das Leben war doch mehr als eine zwangsläufige Folgeerscheinung der Geburt, es war ein zu lüftendes Geheimnis, ein zu lösendes Rätsel, ein zu findender Weg.
So gab Golan seinen Beruf auf, verkaufte alle Habseligkeiten, packte seinen Rucksack und verließ die Stadt, weil seine innere Stimme ihm sagte, daß er dort nicht finden würde, was er suchte.
Drei Jahre lang zog er durch das Land, in denen er vielen Menschen begegnete, darunter auch manchen, die – wie er – auf der Suche nach dem eigentlichen Sinn des Lebens waren. Mit einigen von ihnen freundete er sich an, und sie wurden seine Reisegefährten, bis ihre Wege sich wieder trennten. Von jeder Begegnung nahm Golan etwas mit, das sein Herz erfrischte und seinen Geist bereicherte.
Doch seine tiefsten Fragen blieben unbeantwortet.
Wenn er Geld benötigte, nahm er irgendwo eine Gelegenheitsarbeit an – und zog bald wieder weiter, in der Hoffnung, daß sich eines Tages sein Traum erfüllen würde, den er in der Nacht vor seinem Aufbruch gehabt hatte. Darin war er einem weisen Mann begegnet, der ihm klare Antworten auf die wichtigsten Fragen gab, die ihm auf der Seele lagen.
Es sollten aber noch zwei weitere Jahre vergehen, bis seine Hoffnung sich erfüllte – Jahre, in denen er immer öfter von dem Gefühl geplagt wurde, daß seine Suche vielleicht vergeblich war und er sie schließlich ermüdet aufgeben und sich mit dem begnügen würde, was der großen Mehrzahl aller Menschen offensichtlich genügte – ein Leben ohne tieferen Sinn, ohne höhere Bedeutung.

Eines Nachmittags wanderte Golan durch ein grünes, weitläufiges Tal, durch das sich ein schmaler Fluß schlängelte.
Zu seiner Überraschung erblickte er nach einer Wegbiegung ein hinter Bäumen und blühenden Sträuchern verstecktes kleines Holzhaus, auf dessen Terrasse ein älterer Mann saß, der auf ihn zu warten schien – als habe Golan ihm seinen Besuch angekündigt. Der Mann winkte freundlich und forderte ihn mit einer Handbewegung auf, zu ihm zu kommen.
Golan zögerte nicht, der Einladung zu folgen.
"Willkommen. Mein Name ist Kalim. Ich habe letzte Nacht geträumt, daß du mich heute besuchen würdest", eröffnete der Mann das Gespräch, "also habe ich heute morgen einen zweiten Stuhl auf die Terrasse gestellt."
Sprachlos vor Verwunderung fühlte Golan sein Herz im Hals klopfen, während er sich zu dem Mann setzte und nach den richtigen Worten suchte. "Ich heiße Golan", sagte er schließlich, "und bin auf der Suche nach dem wahren Leben."
Kalim, der etwa doppelt so alt wie Golan sein mochte, sich aber die strahlenden Augen eines lebensfrohen jungen Mannes bewahrt hatte, nickte lächelnd. "Ich weiß. Du hast mich gefunden, weil ich es gefunden habe. Ich habe es – wie du – jahrelang auf abenteuerlichen Reisen gesucht, bis ich vor etwa zehn Jahren in diesem wunderschönen Tal entdeckte, daß das wahre Leben in mir selbst verborgen lag. Also habe ich mir dieses kleine Haus gebaut und bin hier geblieben."
Golan spürte eine seltsame Erregung in sich wachsen. "Du hast das wahre Leben gefunden? Ja, ich sehe es in deinen Augen. Sie blicken bis auf den Grund der Schöpfung. Ich ziehe nun schon seit fünf Jahren durch dieses große Land und suche es noch immer. Zu Beginn meiner Reise habe ich von einem Mann geträumt, den ich eines Tages finden würde. Er hatte deine Augen."
Kalim lächelte versonnen. "Unsere Träume sind oft die Wegweiser unserer Seele. Sie sagen uns, was wir eigentlich wollen und wer wir wirklich sind. Du wirst in den fünf Jahren deiner Wanderschaft manches erlebt und gelernt haben."
"Ich habe so manche Erkenntnisse über mich und die Menschen gewonnen. Und in besonderen Augenblicken fühlte ich mich dem wahren Leben nah – doch immer wieder entfernte ich mich von ihm, ohne es zu wollen."
"Ja, so ist es auf dieser Art von Suche – und viele geben sie leider zu früh auf, weil sie müde sind und die Hoffnung verlieren. Doch das Finden geschieht meistens unverhofft. Oft kann das, was wir uns am meisten wünschen, sich erst ereignen, wenn wir die Hoffnung aufgegeben haben, daß es geschehen wird. Wer hofft, lebt für die Zukunft, für ein Ziel, und das hindert ihn daran, ganz und gar im Augenblick aufzugehen. Aber gerade darauf kommt es an, denn nur in der vollkommenen Gegenwärtigkeit offenbart sich das wahre Leben."
"Ich habe immer nur einen flüchtigen Blick darauf werfen können, ich konnte seinen Zauber, seinen Glanz erahnen – doch dann verlor ich es wieder und wieder", sagte Golan. "Dabei sollte es doch nicht schwierig sein, einfach in der Gegenwart zu bleiben."
"Das Leichteste ist oft das Schwierigste", erwiderte Kalim. "Wenn du im wahren Leben bist, siehst du allerdings keinen Unterschied mehr zwischen leicht und schwierig, denn alles ist im Grunde eins. Du findest deinen Weg mit derselben Natürlichkeit und Sicherheit wie dieser Fluß, an dessen Ufer sich meine inneren Augen öffneten und ich erkannte, daß ich das wahre Leben überall entdecken kann, wenn ich es einmal in mir gefunden habe. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich es überall gesucht und nirgendwo gefunden. Es war seltsam festzustellen, daß ich jahrelang umhergereist war, um schließlich zu erkennen: Ich hätte mich nicht von der Stelle bewegen müssen, um zu finden, was ich gesucht hatte. Und doch mußte ich es."
"Das klingt widersprüchlich", erwiderte Golan.
"Es klingt nur so, weil es dem Verstand so erscheint", erklärte Kalim. "Doch der Verstand täuscht sich – und jeden, der ihm folgt. Nur die Seele kennt den Weg ins Eigentliche."




Eine Passage aus "Kaito"

"Gleich sind wir am Ziel", sagte Taloko. "Am anderen Ende dieses Bambushains liegt Toganas Haus. Seht ihr den Bach dort? Wir sollten uns ein wenig erfrischen, bevor wir Togana gegenübertreten."
Gutadeso richtete einen forschenden Blick auf den Mönch. "Wird es nicht schwierig für dich sein, ihm ins Gesicht zu sehen? Vielleicht reißt eine alte Wunde wieder auf."
"Eine Wunde, die nie ganz verheilt, kann ruhig wieder aufreißen", sagte Taloko heftig, fügte dann aber in bedächtigerem Tonfall hinzu: "Sicher, es wird schwierig. Ich habe Angst davor. Doch ich sehne mich auch sehr danach."
"Dann solltest du es tun", sagte Kaito, lief zum Bach und trank von dem klaren Wasser.
Taloko ging ihm nach und setzte sich neben ihn ins Gras. "Warum meinst du, daß ich es tun sollte?"
Kaito schaute dem Mönch mit einem offenen Blick in die Augen. "Weil es immer richtig ist, wenn man dem Ruf seiner Sehnsucht folgt."
"Das rät mir ein Junge, der noch nicht wissen kann, wie viel Leid und Traurigkeit den Wanderer auf dem Pfad der Sehnsucht erwarten. Tintao, unser Abt, lehrt uns, unsere Sehnsüchte und Begierden zu besänftigen, zu mäßigen und schließlich ganz aufzugeben. Denn sie machen uns unfrei und verdunkeln die natürliche Heiterkeit unseres Gemüts. Die Sehnsucht, das Begehren – sie sind der Anfang allen Elends, aller Enttäuschung und Bitterkeit. Ist es da nicht besser, seiner Sehnsucht den Rücken zu kehren wie einem falschen Freund, der uns mit der Aussicht auf bunte Abenteuer lockt, um uns ins Unglück zu stürzen?"
"Ich kenne die Lehre der Bedürfnislosigkeit", mischte sich Gutadeso ins Gespräch, der sich zu den beiden ans Ufer des Bachs gesetzt hatte. "Sie klingt klug und logisch, doch sie hat einen kleinen Schönheitsfehler – sie widerspricht der menschlichen Natur. Der Mensch hat nun einmal Träume und Sehnsüchte, er hat seine Begierden und seine Wünsche; gerade das gibt seinem Leben erst Würze und Spannung! Nehmt dem Menschen seine Sehnsüchte, seine Illusionen, seine Hoffnungen – und was geschieht? Er bricht unter der Last seines grauen, unbefriedigenden Alltags zusammen!"
"Es geht darum", erwiderte der Mönch, "der Wahrheit ins Gesicht zu sehen, der Wahrheit des Lebens. Und die besteht darin, daß Träume in der Regel nicht in Erfüllung gehen, Illusionen meistens in Verzweiflung, Hoffnungen oft in Enttäuschung enden. Also ist es weiser, das wertzuschätzen, was ist. Das reine Sein zu leben, jeden Augenblick – denn die Wahrheit liegt immer im gegenwärtigen Augenblick verborgen, sie fließt mit uns den Strom der Zeit entlang. Wir sitzen in ihr wie in einem Boot. Doch anstatt die wunderbaren Wasserblüten, die Blumen und blühenden Sträucher an den Ufern zu betrachten und zu genießen, starren wir wie gebannt nach vorne, in die Zukunft. Und unser Paradies liegt immer hinter der nächsten Biegung des Flusses. So verpassen wir unentwegt den gegenwärtigen Moment, das einzige Tor zum Tempel der Wahrheit."
"Schön und gut", erwiderte Gutadeso. "Doch gestatte mir eine Frage, Taloko: Wenn du im Besitz all dieser Einsichten bist und der Lehre der Bedürfnislosigkeit folgst, warum sehnst du dich danach, Togana wieder ins Gesicht zu sehen?"
Taloko schien Gutadesos Frage überhört zu haben. Er starrte geistesabwesend auf das Wasser. Sein eben noch lebhafter Blick wirkte auf einmal leer und matt.
"Verzeih mir, Taloko, wenn ich dir zu nahe getreten bin. Ich frage mich nur, welchen Sinn eine Weisheitslehre und alle guten Einsichten haben, wenn man nicht nach ihnen zu leben vermag. Ist es da nicht besser und ehrlicher, auf alle hohen Erkenntnisse zu verzichten?"
Der Mönch schien aus seiner Erstarrung zu erwachen, schüttelte den Kopf und sagte schließlich mit leiser Stimme: "Es ist gut und richtig, Erkenntnis und Weisheit zu suchen, dem Leiden zu entgehen und das reine Sein zu leben. Leidlosigkeit erwächst aus Bedürfnislosigkeit, aus der Abkehr von Sehnsüchten und eigensüchtigen Begierden. Doch Togana ist stärker als meine Einsichten und Überzeugungen. Er lebt unentwegt das reine Sein, das ich nur dann und wann berühre – wie eine Frucht, die zu hoch hängt, als daß ich sie pflücken könnte. Ich springe, so hoch ich kann – und berühre sie doch nur mit den Fingerspitzen. Togana hingegen streckt nur den Arm aus – und die Frucht liegt in seiner Hand. Er teilt sie mit dir, und sie schmeckt nach allem, was du dir jemals ersehnt hast. Doch sie erzeugt großen Hunger nach mehr. Und wenn Togana dich fortschickt, ohne diesen Hunger befriedigt zu haben, wirst du bis ans Ende deines Lebens einen Mangel, eine Leere, einen hungrigen Mund in deinem Innersten fühlen, der um Nahrung bettelt. Ja, Togana kann dich zu einem Bettler machen – oder zu einem Kaiser. Die allermeisten hat er zu Bettlern gemacht. Deshalb halten ihn viele für einen gefährlichen, vertrauensunwürdigen Lehrer. Aber das ist er nicht. Er ist reines, makelloses Sein, manchmal weich wie Wasser, manchmal hart wie Fels – aber immer voller Licht und Leben. Wenn wir das Glück haben, sein Shakuhachi-Spiel zu hören, werdet ihr mich besser verstehen. Ich würde alles darum geben, noch einmal sein Schüler zu sein! Doch ich habe Angst, ihn darum zu bitten."
Kaito schenkte Taloko einen aufmunternden Blick. "Frage ihn doch einfach! Etwas Schlimmeres als ‚nein’ kann er nicht sagen."
Taloko lachte gequält. "Sicher, du hast recht. Aber manchmal kann ein Nein wie ein Stich ins Herz wirken."
"Ich werde immer neugieriger auf Togana", sagte Kaito. "Was mag er nur für ein Mensch sein?"




Ein Kapitel aus "Der Wunschkristall"

"Komm, wir gehen jetzt ins Wachsfigurenkabinett!" sagte Anima. "Dort sitzen und stehen hochberühmte Verstorbene herum, die solltest du dir unbedingt ansehen! Eigentlich sind sie stumm; du mußt sie nur mit dem Wunschkristall antippen und ihrer Eitelkeit ein bißchen Nahrung geben – das öffnet ihre Wachslippen und ruft sie kurz zurück ins Leben. Sie werden dir Rede und Antwort stehen."
Ich fragte mich nicht mehr, woher Anima all dies wußte. Sie war ein Mädchen, fast noch ein Kind. Doch sie sah so viel! Sie war so weise, wie nur Kinder es manchmal sind. Mit ihr war alles ein faszinierendes Spiel.
Das Wachsfigurenkabinett war imposant. In einem herrschaftlichen Saal saß und stand die höchste Prominenz der Menschheit, zur Besichtigung allzeit bereit. In gebieterischer Haltung posierte Napoleon. Cäsar regierte hochmütig auf seinem Thron. Neben ihm lächelte die Königin vom Nil, verkörperte ästhetisch majestätischen Stil. Gauguin, van Gogh und Dalì sah ich. Auch Kant, Freud und Nietzsche gaben sich ein Stelldichein in dem illustren Reigen, von Mahatma Gandhi ganz zu schweigen. Beethoven stand gestikulierend neben dem verträumten Mahler und dem lachenden Mozart. Marylin Monroe saß mit Humphrey Bogart in einem Ruderboot.
Und ich wußte, was ich die hochberühmten Toten fragen würde: Wie ist er eigentlich, der Tod?
Dann entdeckte ich Arthur Schopenhauer. In seinen klugen Philosophenaugen glänzte Trauer über die Flüchtigkeit des Lebens, die Nichtigkeit allen menschlichen Strebens. Dieser Mann interessierte mich, er war ein ganz besonderer Fall; also berührte ich ihn mit dem Wunschkristall und sagte meine Schmeichelstrophen: "Arthur Schopenhauer, du bist einer der größten Philosophen aller Kulturen und Zeiten, ein Meister der Lebensweisheiten. Du hast das Leben nicht sonderlich geliebt und oft betont, daß es uns weniger gibt, als es uns nimmt. Meinst du noch immer, daß diese Einsicht stimmt? Könntest du noch einmal leben, was würdest du tun: das Leben wählen oder weiter im kalten Grab ruhen?"
"Leben ist nur ein anderes Wort für Leiden", sagte Schopenhauer, "also ist es ratsam, es zu vermeiden. Was soll ich dir über den Tod sagen? Es gibt genug Gründe, auch über ihn zu klagen. Er raubt uns alles, was wir für wirklich halten, kaltblütig läßt er unser Blut erkalten. Und dennoch – im großen und ganzen gefällt der Tod mir besser als das Leben, dieses eitle, leidvolle, zu endlosem Scheitern verurteilte Streben! Komm, junger Freund, komm zu mir! Ich zeige dir, wodurch der Tod besticht!"
Schopenhauer streckte mir die Hand entgegen, doch ich ergriff sie nicht.
Einige Schritte weiter stand Goethe, ein würdevoller, stattlicher Mann. Mit wohlüberlegten Worten sprach ich ihn an: "Du giltst als bedeutender Denker und Dichter, als eins der hellsten Lichter am Firmament der Genies. Sag du mir, ist der Tod bitter oder süß? Ist er ein tiefer, angenehmer Schlummer oder, wie das Leben, durchwachsen von Kummer?"
"Ich hatte gehofft, daß der Tod", antwortete er, "mir neue Erkenntnis bringt über des Lebens Freude und Not und meine unendliche Wißbegier endlich bezwingt. Da steh ich nun, ich armer Tor, und bin so klug als wie zuvor! Das Leben ist flüchtig, drum presse den Saft aus seinen köstlichsten Früchten mit ganzer Kraft. Carpe diem! Nutze die Zeit, die dir verbleibt, bevor der Sensenmann dich entleibt! Denn ohne Körper sind alle Genüsse leider nur platonisch – keine Umarmungen mehr, keine Küsse!"
"Welch hohe Wahrheit", antwortete ich ironisch. "Hast gerade du mir nichts Besseres zu sagen?"
Der Dichterfürst lachte. "Gib mir Bedenkzeit, ich höre dich nur ungern klagen. Warte – wie gefällt dir das: Untrennbar ist das Sein vom Schein. Das hat doch was! Und richtig ist es obendrein, denn die Wahrheit hat einen Januskopf. Sie schmort mit dem Irrtum in einem Topf. Essen mußt du von beidem, so ist nun mal das Leben."
"Aber es muß doch einen Weg geben, die Wahrheit vom Irrtum zu unterscheiden!"
"Muß es das?" fragte er. "Du machst mir Spaß! Ich habe mir oft genug den Kopf darüber zerbrochen, habe die höchsten Gedankensprünge gewagt, bin schwer wie ein Stein versunken in tiefste Grübelei und fand schließlich heraus: Es ist einerlei, ob man das Wahre oder Falsche sagt – beidem wird widersprochen."
"Damit kann ich mich nicht abfinden", sagte ich. "Ich will die Wahrheit ergründen, der niemand zu widersprechen wagt, weil sie jedem das Seine sagt."
"Diese Wahrheit ergründest du nie! Unergründlich bleibt sie selbst dem Genie. Meine lange Suche brachte zutage: Die Wahrheit gleicht einer Waage, deren Schalen man nach Belieben zurechtrücken kann. Wahrheit ist nie absolut, sie ist ein wandelbares Gut."
"Und was ist die Liebe?" fragte ich.
"Die Liebe, auch die wahre, ist keine Wahrheit, sie ist ein unbeschreibliches Gefühl, ein faszinierendes, unwiderstehliches Spiel", erwiderte Goethe. "Im besten Fall ist sie beglückende Magie, im schlimmsten macht sie den Menschen zum Vieh. Liebe ist wie Luft in unserer Hand, unfaßbar für den Verstand. Und wenn sie geht, kann nichts sie halten. Wer sie versteht, der läßt sie ungehindert walten. Dies wäre die wahre Liebe: die immer und immer sich gleich bliebe – einerlei, ob man alles für sie wagt oder ihr alles versagt. Die Frage ist nur, ob es sie gibt – ob ein Mensch auf der Welt lebt, der so liebt. Liebe kann uns zu Himmel und Hölle leiten, doch die Wahrheit aller Wahrheiten hält sie nicht für uns bereit – nur maßloses Glück und maßloses Leid."
Ich blickte impulsiv in den Wunschkristall hinein – denn schöner als je zuvor glänzte sein Regenbogenschein.
Plötzlich hörte ich eine zarte Stimme, die aus seinem Inneren kam und mir mit ihren Worten den Atem nahm: "Suchst du die höchste aller Wahrheiten, laß dich von deiner Sehnsucht zu ihr leiten! Mach dich auf einen langen Weg gefaßt, gehe ihn aber ohne jede Hast! Gehe ihn, ohne dich zu beklagen, wenn er dunkel und beschwerlich wird und dich vermeintlich in die Irre führt. Wer gewinnen will, der muß wagen. Du mußt dein Ziel in deiner Seele spüren, dann wird sie dich durch jede Wirrnis führen! Bedenke: Der Reichtum des Nehmens und Gebens liegt in der Tiefe des Erlebens. Das Geheimnis des Glücks liegt in der Innigkeit des Augenblicks. Du suchst den höchsten Sinn? Es gibt keinen höheren Sinn auf Erden, als tief zu lieben und geliebt zu werden. Zwei Menschen, die sich in reiner Liebe verbinden, werden sich selbst und die Wahrheit finden, die ihre Sehnsüchte stillt und ihre Seelen mit Seligkeit füllt."
Beglückt küßte ich den Wunschkristall.
Dann ging ich weiter und erkannte Shakespeare, da Vinci und Dante. Ich sah Marcel Proust, der seine Romane im Bett schrieb, und Friedrich Schiller, dem zu wenig Zeit blieb, sein Werk zu vollenden. An wen sollte ich mich noch wenden? Vielleicht an Friedrich den Großen? Oder an Ludwig, den Sonnenkönig der Franzosen? Nein, die Monarchen interessierten mich wenig. Was hatte er schon zu sagen, so ein König?
Eine ganz andere Figur erweckte mein Interesse: der empfindsame Dichter Hermann Hesse. "Ich las deine Bücher als junger Mann", sprach ich den Schriftsteller an, "sie haben mich nachhaltig berührt und auf einen guten Weg geführt."
"Ich danke dir für deinen Dank. Das Leben ist kurz, die Kunst ist lang. Es freut mich, daß ich dir helfen konnte, als das Licht meiner Kunst dein Gemüt besonnte", erwiderte Hesse und lächelte freundlich. "Doch nun, bitte, entschuldige mich. Gönne mir meinen Frieden und sieh dich nur weiter um. Ich mag postum keine Worte mehr schmieden."
Fast wäre ich achtungsvoll weitergegangen, da zwang mich ein unwiderstehliches Verlangen, eine Frage an den Dichter zu wagen: "Sag mir: Wie ist es, tot zu sein? Schone mich nicht, schenke mir reinen Wein ein!"
Er sah mich nachdenklich an und erklärte dann: "Mit Worten ist es schwer zu sagen. Wir Menschen sind im Leben schon einsame Wanderer. Für jeden von uns ist auch der Tod ein anderer, er ist eines jeden Lebens Frucht. Für mich war er das wahre Ziel meiner Sehnsucht. Er riß der Zeit die Maske vom Gesicht und tauchte mich tief in das ewige Licht. Mein Körper ist verblichen, zu Staub zerfällt mein Gebein, doch mein Geist stimmt ein ins Lachen der Unsterblichen. Ich mußte so lange hoffen und warten auf Einlaß in den Sternengarten jenseits der Grenzen der Zeit, und nur mein Heimweh gab mir das Geleit. Was der Tod für dich sein wird, steht dahin; es hängt ganz von deinem Leben ab, seiner Tiefe, seiner Schönheit, seinem Sinn."



Zwei Passagen aus "Amanda und das Zauberbuch"

Amanda öffnete das Buch wieder und sagte zu ihm: "Als ich noch ein Mädchen war, habe ich an Wunder geglaubt. Irgendwann habe ich diesen Glauben verloren. Ich mußte fünfunddreißig werden, um ihn wiederzufinden."
Das Zauberbuch ließ die Worte erscheinen:

Es ist gut,
den Wunderglauben
wiederzufinden,
der in der Seele
des Kindes lebt.
Doch besser ist es,
ihn erst gar nicht
zu verlieren.

Amanda versuchte, diese Worte auf ihrem Notizblock mitzuschreiben, doch das Papier nahm die Tinte ihres sonst immer zuverlässigen Füllfederhalters nicht an.
Diesmal hielt ihre Verwunderung sich in Grenzen. Sie begann das Unbegreifliche zu verstehen – daß dieses wie ein weißes Tagebuch aussehende, übernatürliche Phänomen in technische und mechanische Vorgänge eingreifen und sie in seinem Sinn manipulieren konnte.
Amanda verwarf den Gedanken, Photos oder Videoaufnahmen von der flüchtigen Schrift zu machen. Sie würde auf den Bildern und Kassetten ohnehin nur leere Seiten sehen.
Wie zur Erklärung formten sich auf dem Papier die Worte:

Dieser Augenblick,
nicht der vergangene
oder der kommende,
dieser einmalige Augenblick
ist die einzige Tür
ins wirkliche Leben.
Öffne sie jetzt -
oder du öffnest sie nie.

Die Schrift verblich.
Amanda nickte verstehend. Die Worte dieses Zauberbuches waren nur für den Augenblick bestimmt, in dem man sie las – weil alles Wesentliche nur im Jetzt geschehen konnte. In dem wunderbaren Moment, wenn das ganze Wesen ohne jede Ablenkung in der Gegenwart aufging und eins mit ihr wurde. Wenn keine Faser der Seele vom Augenblick abschweifte. Dann war alles möglich. Das Wunder, der Zauber, die Erleuchtung.
Erleuchtung. Nicht nur Buddhisten sprachen davon, auch viele Künstler, inzwischen sogar manche Wissenschaftler, doch jeder schien etwas anderes darunter zu verstehen. Aber wie mochte sie wirklich sein, die Erleuchtung?
Auf dem Papier bildete sich die Antwort:

Das Ich erkennt
mit einem Schlag,
daß es nicht ein Tropfen,
sondern der gesamte Ozean ist.
Es löst sich auf
im Glück des Verstehens
und wird eins
mit der Seele des Lebens.

"Und wie erreicht man Erleuchtung?" flüsterte Amanda.
Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten:

Gehe aus dem Scheinbaren ins Wesentliche,
aus dem Gerede ins Unsagbare,
aus dem Alltäglichen ins Eigentliche.
Gehe aus dem Dunkel ins Licht,
aus der Schwere in die Leichtigkeit,
aus der Illusion in die Wirklichkeit.

Wie mag es sein, dachte Amanda, erleuchtet zu werden? Wie empfindet man es?
Es erschien die Schrift:

Was taub war,
kann endlich hören.
Was stumm war,
kann endlich sprechen.
Was blind war,
kann endlich sehen.
Was gefangen war,
ist endlich frei.

Amanda war es, als würde eine Wolkenschicht, die bis jetzt die Lichtverhältnisse ihres Bewußtseins bestimmt hatte, sich mit einem Mal auflockern. Sonnenstrahlen tiefen Verstehens berührten sie mit zärtlicher Intensität. Sie wurde sich der leuchtenden Gegenwart einer höheren Kraft bewußt, einer übermenschlichen Weisheit, gegen die sich der Verstand ausnahm wie ein Kerzenlicht im Sonnenschein.
Und das Zauberbuch erkannte, was in ihr geschah:

Dies ist die Weisheit
jenseits der Verstandesmauern,
die dich zur Erleuchtung führen wird,
wenn du ihr mit ganzem Vertrauen folgst.

Amanda atmete tief durch, legte das geöffnete Buch auf den Tisch und sah es lange an. Ihre Gedanken schwiegen, ihr Bewußtsein war leer. Doch diese Leere war voller Leben – sie strahlte, vibrierte, sie durchdrang alle Fasern ihres Wesens. Es war ein überwältigendes Gefühl, das ihr mit seiner magisch leuchtenden Stille tiefes Vertrauen schenkte.
Als das Gefühl gleichzeitig mit der Schrift des Zauberbuches erlosch, empfand Amanda das starke Verlangen, diese wunderbare Leere öfter zu erleben, tiefer zu spüren, um ihr schließlich ganz auf den Grund zu gehen – was immer sie dort auch erwarten mochte.
Eine Lebensauffassung, die sich im Hinnehmen des Offensichtlichen erschöpfte, hatte Amanda noch nie genügt. Sie fühlte, daß ihr Leben einen verborgenen, höheren Sinn hatte, der mit den Augen des Verstandes nicht zu erkennen war. Amanda hatte diesen geheimen Sinn jahrelang leidenschaftlich gesucht, aber nicht gefunden, um schließlich vor ihrer Enttäuschung in ihre Arbeit, in die Welt der Archäologie zu flüchten. Ihr angeborener Drang, dem Leben auf den Grund sehen zu wollen, hatte sie in die Vergangenheit geführt, zu den Spuren untergegangener Kulturen. Doch der Sinn des Lebens war nur in der Gegenwart zu erkennen. Sie hatte ihn in der falschen Zeit gesucht...

Und jetzt stellte sie dem Zauberbuch die Frage, die sie schon so lange beschäftigt hatte – die Frage nach der Bedeutung ihres Lebens.
Es gab ihr die Antwort:

In den unermeßlichen
Weiten des Universums
ist jede Form von Bedeutung,
die ein Mensch sich zumißt,
sei er ein Staatsoberhaupt
oder ein Bettler,
eine Form von Größenwahn.
Alle Menschen sind Staubkörner
im endlosen Wind der Schöpfung.

Amanda nickte unwillkürlich. Ja, angesichts der endlosen Weiten des Alls war die Bedeutung der eigenen Person, die man oft so wichtig nahm, derart winzig, daß man sie kaum erkennbar war. Das Bewußtsein der eigenen Nichtigkeit im grenzenlosen Spiel des Universums hatte etwas Heilsames. Es half, wenn die Traurigkeit düster über den Himmel des Lebens zog, bis sie die Sonne der Hoffnung verdeckte. Es schenkte Trost, wenn die Jahre zu schnell vergingen und die Sehnsucht nicht bekam, was sie brauchte. Es war eine gute Medizin gegen die Gewißheit des Todes und gegen die Ungewißheit, die er mit sich brachte.
"Was geschieht mit dem Menschen nach dem Tod?" fragte Amanda das Buch.
Die Worte erschienen:

Die Seele des Menschen
kehrt nach seinem körperlichen Tod
wieder auf die Welt zurück,
ohne sich an ihre
früheren Leben zu erinnern,
um ein neues Dasein
in einem neuen Körper zu beginnen.
Doch wer diesen Kreislauf erkennt
und ihm nicht länger angehören will,
kann sich endgültig aus ihm befreien.
Er kann leben, ohne geboren zu werden.
Er kann leben, ohne sterben zu müssen.
Er ist eine befreite Seele
in einem grenzenlosen Universum.
Diese Befreiung heißt Erleuchtung.

Als die magische Schrift verblichen war, mußte Amanda unwillkürlich an eine Szene aus einem Spielfilm denken, den sie ein paar Tage vor ihrer Reise nach Indien gesehen hatte. Eine alte Frau sagte in diesem Film zu einem jungen Mädchen: "Der Tod ist besser als die Geburt. Lerne das Leben zu hassen! Denn es ist voller Leiden und Vergeblichkeit."
Die Lebensphilosophie einer verbitterten alten Frau, hatte Amanda abwehrend gedacht. Doch ihre innere Ruhe war gestört, denn sie konnte nicht verdrängen, daß die Worte der Alten sie unangenehm berührt hatten, weil sie eine Wahrheit in sich trugen, der Amanda sich nicht entziehen konnte. Denn vieles im Leben brachte Leid, vieles erwies sich als vergeblich, und die absolute Gewißheit des Todes ließ alle Leiden, Prüfungen und Strafen des Lebens – und auch alles, was man aus ihnen lernte – vergeblich erscheinen. Doch die alte Frau hatte die Glücksmomente unterschlagen, die kleinen und großen Freuden, sie hatte die Liebe ignoriert, die Freundschaft, die Natur und die Musik, die Poesie, die Malerei, den Tanz.
Und sie hatte die strahlende Leere vergessen, die grenzenlos freie Gegenwärtigkeit. Vielleicht war sie eine Vorstufe der Erleuchtung, und es fehlte von dort nur noch ein letzter Schritt zur endgültigen Befreiung?
Amanda glaubte an die Wirklichkeit der Erleuchtung. Und sie glaubte, daß nicht nur Buddha sie erlangt hatte, sondern auch andere Menschen zu allen Zeiten in allen Teilen der Welt. Menschen, die keine großen Worte darüber verloren hatten. Menschen, von denen die Geschichte keine Notiz genommen hatte. Im Prinzip konnte jeder Mensch Erleuchtung erlangen, der sie wirklich suchte, wenn seine Sehnsucht nach ihr groß genug war – und seine Reife. Wenn seine Seele nicht nur frei sein wollte, sondern auch frei sein konnte.
Amanda kannte einige Leute, bei denen sie mit solchen Überzeugungen nur Befremdung ernten würde. Leute, die schon den Gedanken an eine höhere Existenzform als die des menschlichen Lebens als Spinnerei abtaten. Leute, denen sie nie ihren Glauben offenbaren würde, daß der Sinn des menschlichen Lebens letztlich darin bestand, es zu überwinden und in ein höheres Dasein aufzusteigen, damit die unsterbliche Seele für alle Zeiten befreit war von der Last immer neuer sterblicher Körper. Körper, die wieder und wieder leben, lieben, besitzen, genießen und jung bleiben wollten und doch so viel Schmerzen und Leiden, Verletzungen, Enttäuschungen und Krankheiten zu spüren bekamen – und schließlich das unaufhaltsame Altern, das Nachlassen der Lebenskräfte, das bedrohliche Nahen des Todes.
Und trotzdem war das Leben manchmal so schön, so kostbar, daß man seine Schattenseiten völlig vergaß.




Die Leseproben wurden aus den Büchern DAS LEBEN HAT TÄGLICH GEBURTSTAG, DAS HERZ EINES ENGELS, DER GEFUNDENE SCHATZ, KAITO, DER WUNSCHKRISTALL und AMANDA UND DAS ZAUBERBUCH ausgewählt.

© an den Texten und Photos by Hans Kruppa

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